23. August 2018
Besucher*innen im Blick, Testen & Evaluieren

Audiences first, digital second.

Wie wir motivationsbasierte Besucher- und Nutzerforschung in den Staatlichen Museen zu Berlin zum Entwickeln und Erproben digitaler Vermittlungsformate nutzen.

Weil Menschen und ihre Bedürfnisse immer der Ausgangspunkt sein sollten, um einzigartige (digitale) Ausstellungs-, Vermittlungs- und Kommunikationserlebnisse zu entwickeln, steht am Beginn unseres Projekts eine umfangreiche Besucher- und Nutzerforschung. Wir wollen verstehen, wer unsere Besucher sind – und wer sie folglich auch nicht sind –, was sie umtreibt und wie sie vorgehen, wenn sie ein Museum besuchen.

Dabei glauben wir, dass rein demografische oder sozioökonomische Daten wenig Erkenntnisse liefern über Vorlieben, Erwartungen und Pain Points unserer Besucher. Demnach bieten sie auch kaum Anknüpfungspunkte, um digitale Vermittlungs- und Kommunikationsinstrumente zu entwickeln und zu optimieren.

Denn zu wissen, dass jemand weiblich, zwischen 40 und 50 Jahren, Besserverdiener und verheiratet ist, liefert wenig Anhaltspunkte, um vorherzusagen, ob die Person ein Museum besuchen wird, was sie im Museum macht und wie sie das Museum erfahren wird.

Zudem nehmen wir an, dass es wenig Sinn macht, einzig nach der Nutzung digitaler Anwendungen zu fragen. Vielmehr meinen wir, dass wir besser digitale Vermittlungs- und Kommunikationsideen antizipieren können, wenn wir menschliches Besuchsverhalten in der Tiefe mit seinen Anreizen, Bedürfnissen und Problemen genauer verstehen.

So gab es beispielsweise kaum einen Bedarf an Smartphones, bis das Apple iPhone den Markt revolutionierte.  Aber es gab ein Bedürfnis nach intuitiven, nutzerfreundlichen (technologischen) Kommunikationsmöglichkeiten. Die Entwicklung exzellenter Produkte, basierend auf der Kenntnis menschlicher Bedürfnisse und Anreize, kann also zu großem Erfolg führen. Hätte man die Menschen nach der Nutzung und Relevanz der bis dato auf den Markt befindlichen Smartphones befragt, wären die Aussagen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zugunsten des iPhones ausgefallen.

Besuchsmotivationen – Ansatzpunkt für digitale Vermittlungsformate

So ist unsere Kernthese in der Besucher- und Nutzerforschung, dass sich die Besucher der Staatlichen Museen zu Berlin vor allem nach Besuchsmotivationen unterscheiden. Jeder Motivationstyp hat demnach eine andere Visitor Journey mit anderen Wünschen an Ausstellungsinhalten, (digitale) Vermittlungsinstrumente und Serviceangebote. Dabei arbeiten wir mit einem Modell von John H. Falk., einem der führenden Experten für „free-choice learning“, einem Lernen, das durch Motivationen, Bedürfnisse und Interessen einer Person bestimmt wird. John H. Falk forscht seit Langem über Museen und hat fünf Besuchsmotivationstypen auf Basis von Hunderten von Tiefeninterviews und der Analyse bisheriger Museumsbesucherstudien identifiziert: Explorers, Facilitators, Professionals / Hobbyists, Experience Seekers, Rechargers. Diese Motivationstypen bilden auch die Basis für unsere Untersuchung.

Besuchsmotivationstypen von John H. Falk, aus „Understanding Museum Visitors’ Motivations and Learning“ Grafik: © Staatliche Museen zu Berlin / A. Greive
Besuchsmotivationstypen von John H. Falk, aus „Understanding Museum Visitors’ Motivations and Learning“ Grafik: © Staatliche Museen zu Berlin / A. Greive

Mix aus quantitativer und qualitativer Erhebung

Wir haben uns bei unserem Untersuchungsansatz für eine Mischung aus quantitativer und qualitativer Erhebung entschieden. Begonnen haben wir mit der quantitativen Erhebung, wobei wir uns an das Besucherforschungsprojekt KulMon angegliedert haben, das bereits in ausgewählten Häusern der Staatlichen Museen zu Berlin lief. KulMon wurde initiiert von VisitBerlin und der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Das Projekt bietet für Kultureinrichtungen, innerhalb und außerhalb Berlins, relativ einfach die Möglichkeit, über persönliche Befragung durch geschulte Interviewer und einem online-basierten Auswertungstool ihre Besucher zu erfassen. Es gibt einen einheitlichen Mantelfragebogen, der demografische und sozioökonomische Informationen der Besucher von Kultureinrichtungen erfasst. Darüber hinaus kann dieser Fragebogen um die persönlich relevanten Fragestellungen erweitert werden. Also haben wir die Abfrage der Besuchsmotivation ergänzt sowie die Abfrage der Nutzung digitaler Handhelds und Informationsangebote sowie Vorlieben. Die erweiterte Befragung wurde modellhaft für sechs Häuser der Staatlichen Museen zu Berlin, mit unterschiedlicher Ausrichtung, im Zeitraum Anfang Januar bis Ende Mai 2018 mit einer Stichprobe von 500 Besuchern pro Haus umgesetzt.

Daran anknüpfend führten wir in der Gemäldegalerie, exemplarisch als kunsthistorisches Museum, zwanzig Tiefeninterviews durch – vier je Motivationstyp –, um nun die Besuchsmotivationstypen mit ihren spezifischen Visitor Journeys in der Tiefe zu untersuchen. Ein gut ausgearbeiteter und getesteter Leitfaden diente uns als Orientierung für den Gesprächsverlauf, den wir entlang der übergeordneten Visitor-Journey-Phasen modellierten.

Ausschnitt eines Mental-Model-Diagramms © Nadja Bauer
Ausschnitt eines Mental-Model-Diagramms © Nadja Bauer
Auswertungsprozess der qualitativen Interviews © Nadja Bauer

Mentale Modelle ­– Darstellungsmethode für Tiefeninterviews aus dem nutzerzentriertem Design

Die Ergebnisse der qualitativen Erhebung werden nun mit der Mental-Model-Methode ausgewertet, grafisch dargestellt und im Herbst 2018 veröffentlicht werden. In der Psychologie ist ein mentales Model ein Abbild der Wirklichkeit in der menschlichen Wahrnehmung. Verwendet wird dieses Modell aber auch seit ein paar Jahren im nutzerzentrierten Design. Die Idee zur Adaption der Methode – als Mental-Model-Diagramm – stammt von Indi Young. Ein Mental-Model-Diagramm bildet alle Schritte und Vorgehensweisen von Nutzern ab, mit denen sie Aufgaben erledigen, Ziele verfolgen, welche Kontakt- und Berührungspunkte sie nutzen, aber auch ihre Motivationen, Gedankenprozesse und tieferliegende Verhaltensmotive – eben was in den Tiefeninterviews untersucht wurde.

Für UX-Strategen und Designer bieten Mental-Model-Diagramme großartige Möglichkeiten, nutzerbasiert Ideen und Funktionen zu entwickeln, Lücken in Customer Journeys zu schließen und Kollegen und Stakeholder zu involvieren. Für Museumsmitarbeiter können auf der Basis nicht nur spannende (digitale) Vermittlungs- und Kommunikationsansätze entwickelt und optimiert werden – nein, auch für Kuratoren, Besucherservice und auf Managementebene können Mental-Model-Diagramme ein überaus hilfreiches Werkzeug sein, beispielsweise um Entscheidungen zu treffen.

In unserem Projekt entwickeln wir die Mental-Modell-Diagramme pro Motivationstyp und entlang ihrer Visitor-Journey-Phasen. Wir erhoffen uns dadurch spannende Erkenntnisse über unsere angenommenen Besuchsmotivationstypen zu erlangen und Lücken in deren Visitor Journeys zu erkennen. Hierzu gehören etwa nichtbeachtete digitale Berührungspunkte oder zu wenig inhaltliche Kontextualisierung. Darauf aufbauend wollen wir dann Ideen für digitale Vermittlungs- und Kommunikationsangebote entwickeln und als Prototypen erfahrbar machen, aber auch bestehende digitale Berührungspunkte in der Journey optimieren und besser orchestrieren.

Personas als Ergebnis und Instrument für digitale Vermittlung und Kommunikation

Die Erkenntnisse aus den beiden Erhebungen werden wir in Personas überführen. Personas sind Nutzermodelle, die bestimmte Segmente oder Ausprägungen von Zielgruppen mit ihren spezifischen Merkmalen beschreiben. Personas werden meist mit Namen, Gesicht, Privatleben, Erwartungen, Wünsche, Pain Points etc. dargestellt. Sie dienen dazu, dass sich Kreative, Entwickler, Kommunikatoren, u.a. in die Perspektive der potenziellen Nutzer versetzen können und dass damit der Kreations- oder Entwicklungsprozess verbessert und erleichtert wird.

Oft werden im nutzerzentrierten Design Personas auf Basis von Annahmen entwickelt. Dies geschieht meist, wenn man eine relative gute Kenntnis von seinen Zielgruppen oder Zielpublika hat oder wenn nicht ausreichend Zeit und Budget zur Verfügung stehen. Diese Annahmen zu den Personas werden dann meist durch Nutzer-Testings geprüft und verfeinert. Das ist eine gute Herangehensweise. Besser ist es jedoch, wenn man die Personas auf Basis quantitativer und qualitativer Daten erstellt, wodurch sie eine hohe Validität und längere Gültigkeit bekommen.

Uns ist es daher in diesem Forschungsprojekt wichtig, unsere Persona auf einer guten Datenbasis zu entwickeln, um sowohl für die Staatlichen Museen, als auch für die Museumslandschaft generell einen nachhaltigen Ansatz beschreiben zu können.

Wir werden unsere Personas dann für unseren weiteren digitalen Kreativ- und Entwicklungsprozess intensiv nutzen. Die Personas werden auch die Basis bilden für die Akquise unserer Tester und zur Evaluation und Optimierung der digitalen Vermittlungs- und Kommunikationsangebote.

Ausblick: Toolbox und geplante Veröffentlichung

Im Herbst dieses Jahres werden wir über die konkreten Ergebnisse unserer Erhebungen mit einem weiteren Blogpost berichten. In der Zwischenzeit entwickeln wir eine Toolbox für Besucher- und Nutzerforschung in Museen, die wir ebenfalls veröffentlichen – zusammen mit dem Fragebogen für die quantitative Erhebung, Leitfaden, Mental-Model-Diagrammen und Personas.

Ich glaube stark an die Wirkungskraft dieser Methoden in ihrer Kombination, insbesondere mentaler Modelle. Es ist eine Methode, die so in der deutschsprachigen Museumslandschaft noch nicht erprobt wurde. (Sollte dies doch anders sein, als behauptet, bitte ich um einen Hinweis.) Darin liegt ein großer Mehrwert nicht nur für die Staatlichen Museen zu Berlin, sondern auch für die Museumslandschaft generell.

Dank an dieser Stelle an unsere engagierten Beratern, die uns methodisch und umsetzend begleiten, insbesondere an Dr. Vera Allmanritter und ihre Kollegen Dr. Anette Lösecke und Dr. Helge Kaul.

Beitrag von: Nadja Bauer

Teilprojekt: (De-)Coding Culture. Kulturelle Kompetenz im Digitalen Raum
Teilprojekt

(De-)Coding Culture. Kulturelle Kompetenz im Digitalen Raum

Das museum4punkt0-Team der Staatlichen Museen zu Berlin baut unter anderem die Online-Sammlungen der SMB als Multiexperience-Plattform aus, um vielfältige Bezüge zwischen Objekten und Nutzer*innen herzustellen und damit die identitätsstiftende Wirkung von Kunst und Kultur zu fördern.

Impulse & Tools für die digitale Kulturvermittlung

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