Ena wasawasa levu. Auf dem weiten Meer. Ein Virtual-Reality-Spiel für Kinder

Ena wasawasa levu

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Durch spielerisches Eintauchen in Virtual-Reality erhalten Kinder und Jugendliche Einblicke in die Methoden traditioneller Navigation Ozeaniens und erfahren immersiv die Weite des pazifischen Ozeans. Das Virtual-Reality-Spiel „Ena wasawasa levu. Auf dem weiten Meer“ fügt sich neben weiteren analogen und digitalen Angeboten für Kinder, Jugendliche und ihre Familien als solitäre Station in eine Familienfläche des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum ein, unmittelbar an einem der großen Südseeboote. Durch das Virtual-Reality-Spiel wird erprobt, wie komplexes Wissen gezielt für Kinder und Jugendliche erlebbar gemacht werden kann. Hierzu wurde bereits frühzeitig und kontinuierlich die zukünftige Zielgruppe in die Entwicklung einbezogen.

Im Virtual-Reality-Spiel finden sich die Spieler auf einem digitalen Duplikat eines traditionellen Doppelrumpfbootes aus Fidschi wieder, das im Ausstellungsraum von Kindern betreten werden kann. In einem ca. zehnminütigen Spieldurchlauf gilt es, das virtuelle Boot mithilfe von geheimnisvollem Navigationswissen zu einer entfernten Insel zu steuern, dabei die Natur zu beobachten und die Hinweise für die Navigation auf dem Ozean zu entziffern.

Mit „Ena wasawasa levu. Auf dem weiten Meer“ werden sowohl der ursprüngliche Kontext als auch die ursprüngliche Funktion der ausgestellten Südseeboote sowie die Bedeutung des Meeres für die Menschen in Ozeanien auf emotionale und spielerische Weise erfahrbar gemacht. Dabei werden durch innovative digitale Mittel neue Zugänge für die Zielgruppe geschaffen und die Grenzen der Dauerausstellung erweitert.

Bibliographische Angaben

Institution
Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Teilprojekt
(De-)Coding Culture. Kulturelle Kompetenz im Digitalen Raum
Autor*innen
Dietmar Fuhrmann, Cristina Navarro
Veröffentlicht
15.12.2020
Lizenz der Publikation
CC BY 4.0
Kontakt
Timo Schuhmacher
Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
m4p0.m1@smb.spk-berlin.de

Entwicklung

Der neue Standort des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt Forum lässt ein besonders heterogenes Publikum erwarten, das neue Bedarfe mit sich bringen wird. Die unmittelbare Zeit vor seiner Eröffnung bietet daher eine hervorragende Gelegenheit, die Möglichkeiten der digitalen Vermittlung im Ausstellungsraum mit dem Blick auf die Zukunft neu zu denken. In diesem Kontext wurde die leitende Frage gestellt, ob der Einsatz von Virtual-Reality-Technologien neue Zugänge für Kinder und Jugendlichen schafft, und wie dieser Einsatz einer zielgerichteten Vermittlung von komplexem Wissen zu großformatigen Objekten gerecht werden kann. Dieses Vorhaben fand mit der für 2021 geplanten Eröffnung des Ethnologischen Museums und hier insbesondere mit dem Kubus Boote und seinen sechs originalen Südseebooten ein konkretes Testszenario vor.

Das Vorhaben wurde als Virtual-Reality-Spiel (VR-Spiel) geplant und in iterativen Schleifen entwickelt, die unten näher beschrieben werden. Die zentralen Meilensteine waren neben der Erstellung eines inhaltlichen und medialen Drehbuches, eine Machbarkeitsstudie zur Nutzung von VR-Headsets durch Kinder unter zwölf Jahren, ein öffentliches Ausschreibungsverfahren zur Gewinnung einer Produktionsfirma sowie die Erstellung von drei Prototypen und ihre Erprobung mit Nutzer*innen, die Fertigung der finalen Anwendung und die entsprechende Dokumentation. Da die Implementierung vor Ort im Ausstellungsbereich Ozeanien des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist, spielt der aktuelle Meilenstein zur Erstellung eines Leitfadens zur Betreuung und zum Betrieb der VR-Station eine besonders wichtige Rolle.

Grundlegend für die Entwicklung des VR-Spiels war eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der geplanten Dauerausstellung im Ausstellungsbereich Ozeanien. Ein intensiver und regelmäßiger Austauschprozess mit den zuständigen Kurator*innen, Dr. Dorothea Deterts und Ute Marxreiter, sowie mit der Projektleitung der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt Forum, Bettina Probst, über die ausgewählten Exponate, die intendierten Botschaften und den erwünschten Besucherfluss etc. wurde frühzeitig in Gang gesetzt. So konnte eine gemeinsame Basis für das Generieren eines Mehrwertes für die Präsentation und die Vermittlung gebildet werden.

Inhaltliches Konzept

Die Südseeboote des Ethnologischen Museums werden im Humboldt Forum in einem sich über zwei Etagen erstreckenden Raum präsentiert. Inhaltlich ist dieser Ausstellungsbereich mit dem Titel „Ozeanien: Mensch und Meer“ überschrieben. Die Kernbotschaft dieses Ausstellungsbereiches ist, dass der Pazifik als der größte Ozean der Welt ein Meer von Inseln und kein Niemandsland ist – ein weites Meer, das nicht trennt, sondern verbindet. Gezeigt werden u.a. sechs traditionelle Boote aus unterschiedlichen Regionen Ozeaniens, die jeweils durch ein spezielles Thema kontextualisiert sind. Eines der Boote, ein für die Ausstellung auf Fidschi neugebautes und in Teilen begehbares, traditionelles Doppelrumpfboot ist das Hauptexponat eines besonders für Kinder, Jugendliche und ihre Familien zugeschnittenen Bereichs, der sogenannten Familienflächen.

Digitales Duplikat des Doppelrumpfbootes aus Fidschi
Digitales Duplikat des Doppelrumpfbootes aus Fidschi der Ozeaniensammlung des Ethnologischen Museums, Staatliche Museen zu Berlin / Fanet Göttlich, CC BY 4.0

Im Humboldt Forum sind mehrere Familienflächen vorgesehen, die zur intensiveren und spielerischen Auseinandersetzung mit einzelnen übergreifenden Fragestellungen einladen. Hier kann man aktiv werden und sich selbständig mit den Ausstellungsinhalten beschäftigen. Das Motto der Familienfläche im Kubus Boote lautet: „Wie orientiere ich mich in der Welt?“ Das Doppelrumpfboot aus Fidschi steht im Zentrum dieses Bereichs. Die Möglichkeit das Boot physisch zu erfahren sowie Multimedia- und Hands-on-Stationen, laden zur aktiven Beschäftigung mit den Ausstellungsthemen ein. Für die Familienfläche im Kubus Boote galt es, im Rahmen der Entwicklung neuer Narrative konkrete Botschaften und Vermittlungsziele für das Virtual-Reality-Spiel zu bestimmen und auszuarbeiten.

Technisches Konzept

Schon früh war in der Planung der Anwendung eine Entscheidung zur geeigneten VR-Technik notwendig. Besondere Bedingungen des Ausstellungsraumes wie eine gedämpfte Grundbeleuchtung, Hintergrundbewegungen durch Besucher sowie eine nötige anspruchsvolle Performance bei den Interaktionen in der virtuellen Welt führten zur Auswahl der HTC Vive Pro. Sie ermöglicht über sogenannte Base-Stations ein exaktes Headset-Tracking, das ein eindeutiges und störungsfreies VR-Spielerlebnis garantiert. Für das Spiel selbst wird nur einer von zwei Controllern benötigt. Mit ihm wird das virtuelle Ruder bewegt. Als Betriebssystem kommt Windows 10 auf einem leistungsstarken Rechner mit einer für den VR-Einsatz geeigneten Grafikkarte zum Einsatz. Im Speziellen fiel die Entscheidung auf einen Dell Precision 5820 Tower XCTO Base mit folgenden Spezifikationen:

  • Intel Core i7-7800X 3,5GHz, 4GHz Turbo, 6C 8,25MB Cache, HT, (140W) DDR4-2400
  • 32GB (4x8GB) 2666MHz DDR4 UDIMM
  • NVIDIA GeForce GTX 1080

Weiterhin ist die Installation der Software Steam und SteamVR auf dem Rechner notwendig. Zur einfacheren Handhabung durch die Betreuer im Museum wird ein Stream-Deck mit sechs Tasten eingesetzt. Über diese können zentrale Funktionen des Rechners und des Spiels ausgelöst werden. Im Einzelnen sind dies der Neustart und das Herunterfahren des Rechners, die Änderung der Sprachauswahl für das Spiel sowie die Möglichkeit an den Anfang und an das Ende des Spiels zu springen. Zur Kontrolle des Spielverlaufes durch den Betreuer ist ein 10 Zoll Monitor installiert. Zur genauen Spezifikation der einzelnen Elemente und Softwareversionen siehe die Dokumentation zur Anwendung auf GitHub/museum4punkt0. Im Humboldt Forum wird das Spiel in doppelter Ausführung zur Verfügung stehen.

Themensetzung: Navigation der Südsee

Im Rahmen des Mottos der Familienfläche lag es nahe, die besondere Verbindung der Ozeanier zum Meer in den Fokus zu stellen, eine Verbindung die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist. Während die mentale Verbindung heute der Identitätsfestigung der Ozeanier dient, konnte die physische Verbindung beispielsweise zum Handel und zur Festigung von Familienverhältnissen nur mit Hilfe von Kenntnissen aufrechterhalten werden, die die Reise über weite Strecken des Ozeans von Insel zu Insel ermöglichte. Ozeanien hat im Laufe seiner Geschichte hierzu komplexes Wissen und eine Vielzahl von Methoden hervorgebracht, vom „Sternenkompass“ bis zur Stabkarte. Den Navigationsmethoden gemeinsam ist die aufmerksame Beobachtung der Natur und deren Interpretation.

Virtual-Reality für Kinder

Die Familienflächen richten sich an Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Hier stellte sich die grundlegende Frage, in wie weit die Virtual-Reality-Technologie für diese Altersgruppe adaptier- und einsetzbar ist. Erste Erfahrungsberichte und Betriebshinweise der Hersteller von VR-Brillen legten eine Erhöhung des Mindestalters nahe. So wurde im Ergebnis der Entschluss gefasst, Kinder ab acht Jahren bis zu zwölf Jahren als Zielpublikum ins Auge zu fassen und die obere Altersbegrenzung weich aufzufassen.

Testen einer VR-Anwendung
Testen einer VR-Anwendung durch einen Schüler während der Machbarkeitsstudie, Staatliche Museen zu Berlin/museum4punkt0. Foto: Silvia Faulstich, CC BY 4.0

Ziele, Botschaften, Visionen

Auf Basis umfangreicher Fachliteratur sowie interner Diskussionen mit den Teammitgliedern wurden grundsätzliche Ziele, Botschaften und Visionen entwickelt. Federführend durch die Verfasser*innen, wurde als zentrales Vermittlungsziel folgende Botschaft fixiert: „Das Meer ist riesig und ein bedeutendes, verbindendes Element der Menschen Ozeaniens. Um es in seiner Vielfalt zu nutzen bedarf es besonderer Boote und besonderen Wissens.“ Zudem sollte den Nutzer*innen ein Eindruck und ein Gefühl für die Weite des pazifischen Ozeans vermittelt werden.

Im Grundkonzept wurden weitere, spezifische Vermittlungsziele festgehalten. Durch Gegenwartsbezüge sollte der Eindruck vermieden werden, in Ozeanien kämen auch heute noch vorrangig traditionelle Segelboote zum Einsatz. Ebenso sollte vermieden werden, die Spieler in die Rolle eines Ozeaniers zu versetzen. Sie sollten in ihrer Perspektive (Ich-Perspektive) bleiben, obwohl sie sich virtuell in Ozeanien befinden würden.

Für die Spieldramaturgie von Bedeutung wurde die Erkenntnis, dass die Navigation eines traditionellen ozeanischen Bootes auf der Beobachtung der Natur basiert. Sie wurde zur zentralen Botschaft.

Wesentlich für die Vision des Kernteams des Projekts war es, ein Erlebnis zu schaffen, durch das über die eigentlichen Inhalte hinaus die respektvolle Neugier an fremden Kulturen gefördert und eine Bindung zum Thema im Ausstellungsraum der Ozeaniensammlung und damit zum Museum geschaffen wird.

Konzeptskizze des VR-Spiels
Konzeptskizze des VR-Spiels, Staatliche Museen zu Berlin/museum4punkt0. Skizze: Cristina Navarro, CC BY 4.0

Die Drehbuchentwicklung

Im Sinne einer multiperspektivischen Entwicklung wurde das Arbeitskernteam (s.o.) mit einem Kollegen aus museum4punkt0 für IT-Fragen (Sandro Schwarz) erweitert und im Laufe des Entwicklungsprozesses punktuell durch weitere Kolleg*innen aus museum4punkt0 hinsichtlich Spielentwicklung (Alexander Hennig) und Nutzer*innenforschung (Josefine Otte) ergänzt. Internationale Fachkolleg*innen und Vertreter*innen der Herkunftsgesellschaften, nämlich die Crew der Bootsbauer auf Fidschi, standen dem Team als Berater für inhaltliche Fragen zur Seite.

Gemeinsam wurde in einem iterativen Prozess unter Berücksichtigung ethnologischer, inhaltlicher und spieltheoretischer Aspekte eine Spielidee sowie Ansätze des Spieldesigns und der Spielmechanik entwickelt, in Skizzen visualisiert und schließlich in einem ersten, ausgearbeiteten Drehbuch fixiert. Zu Gute kamen dem Team dabei die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie, die wertvolle Erkenntnisse über Erwartungen und Wünsche der Zielgruppe in Bezug auf die grafische Gestaltung, die Handlung und die Dramaturgie sowie über die Handhabung und Anpassung der Technik lieferte. Das Drehbuch baute bewusst auf den Austausch mit den unterschiedlichen Kolleg*innen des erweiterten Projektteams auf. Durch den Austausch wurden zentrale Ansätze für die kindgerechte Vermittlung von Inhalten, das Spielprinzip und die Spielmechanik präzisiert. So wurde beispielweise eine Helferfigur hinzugefügt, die durch die Spieler*innen abgerufen werden kann.

Bei der inhaltlichen Arbeit am Drehbuch zeigte sich bald, dass der Umgang mit ethnologischen Sammlungsobjekten und Themen eigene Charakteristika aufweist. Abgesehen von Fragen zur Provenienz von Objekten aus Kolonialzeiten und zur Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften wurde hier in erster Linie diskutiert, welches Bild der Kulturen Ozeaniens über die Gestaltung des VR-Spiels vermittelt werden soll. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei stets dem respektvollen Umgang mit den Kulturen Ozeaniens. Südsee-Klischees waren zwingend zu vermeiden. Dies führte auch zu der Entscheidung das Spiel auch wenn ein Boot historischer Bauart im Zentrum stehen würde, in der Gegenwart anzusiedeln.

Im Zuge der Gespräche wurde entschieden, eine mittels Illustrationen abstrahierte Welt zu entwerfen, die erahnen lässt, dass die Landschaften und Charaktere fiktiv aber wiedererkennbar sind. Das digitale Duplikat des Doppelrumpfbootes aus Fidschi sollte gut erkennbar sein, um den Bezug zwischen VR-Spiel und dem zentralen Sammlungsobjekt sowie dem Ausstellungsraum zu stärken.

Ausschnitt aus dem Drehbuch des VR-Spiels
Ausschnitt aus dem Drehbuch des VR-Spiels, Staatliche Museen zu Berlin/museum4punkt0. Skizze: Cristina Navarro, CC BY 4.0

Die Spielentwicklung

Umfassende Marktrecherchen mündeten in ein öffentliches Ausschreibungsverfahren, über das ein qualifizierter Entwicklungspartner gefunden werden konnte. Im Ergebnis ging der Zuschlag an die Firma Ijsfontein Interactive Media GmbH (heute Wegesrand Medienbeteiligungs- GmbH Beratung), die sich sowohl durch die Entwicklung von Spielen für Kinder in Museen als auch durch die von Virtual-Reality-Anwendungen ausgezeichnet hat.

In der neuen Teamkonstellation mit den Spielentwicklern wurde in unterschiedlichen interdisziplinären Workshops das vorliegende Konzept hinsichtlich des Spielnarrativs, des Game Designs und der Spielmechanik geprüft, angepasst, bis zum Feinkonzept verfeinert und in ein letztes Drehbuch überführt. In diesem Drehbuch galt es auch, aus dem umfassenden Pool an hochkomplexen Navigationstechniken Ozeaniens solche Orientierungsmethoden auszuwählen, die für eine vereinfachte und kindgerechte Darstellung geeignet erschienen. Da das Erlebnis des offenen Meeres, die Weite des Ozeans Teil des Vermittlungszieles war, mussten die konkreten Aufgaben komplex aber auch lösbar sein und einen erfolgreichen Abschluss des Spiels gewährleisten. Die Spielenden sollten auf ihrer Fahrt über das weite Meer Zwischenziele ansteuern, die erst erscheinen, wenn eine der Spielaufgaben gelöst wurde. So sollten die Spieler*innen sich an der Sonne orientieren, Wolkenformationen und den Flug von Seevögeln interpretieren und in einer Nachtszene das Sternenbild Kreuz des Südens für die Navigation nutzen.

Route des VR-Spiels in Draufsicht
Route des VR-Spiels in Draufsicht. Die Symbole deuten auf die natürlichen Elemente sowie die Aufgaben hin, die zu lösen sind, und dienen zur Orientierung auf der Fahrt, Staatliche Museen zu Berlin / Ijsfontein Interactive Media & Wegesrand, CC BY 4.0
Orientierung im Meer anhand des Vogelflugs
Abbildung der Aufgabe zur Orientierung im Meer anhand des Vogelflugs als Papierprototyp, Staatliche Museen zu Berlin / Ijsfontein Interactive Media & Wegesrand, CC BY 4.0
Nutzerin spielt mit dem Papier-Prototyp
Nutzerin spielt mit dem Papier-Prototyp begleitet von einer Interviewerin, Foto: Anna Wiese, CC BY 4.0

Klar war von Anfang an – das hatte die Machbarkeitsstudie bestätigt –, dass ohne die Einbindung der zukünftigen Zielgruppe keine sinnvolle, produktive und nutzerorientierte Arbeit möglich wäre. Als Meilensteine wurden daher in die Entwicklung an zwei entscheidenden Momenten Testings mit der Zielgruppe eingefügt. Das erste Testing fand in einer frühen Phase der Projektentwicklung statt. Es zielte darauf ab, schrittweise zu ermitteln, ob die Idee den Anforderungen der Nutzer*innen hinsichtlich Bedienbarkeit und Inhalt tatsächlich erfüllt und nachvollziehbar ist. Zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung gab es noch einige Gestaltungsspielräume, so dass eventuelle zielgerichtete Änderungen weniger Aufwände bedeutet hätten. Das zweite Testing diente weiterführend dazu, Änderungen nach dem ersten Test auf ihren Erfolg hin zu überprüfen und zentrale Optimierungspotenziale für den Feinschliff der Umsetzung herauszustellen.

Die Testings wurden gemeinsam mit Josefine Otte (s.o.) intensiv vorbereitet und wissenschaftlich ausgewertet. Grundlagen, Ablauf und Ergebnisse der Studie sind gesondert an anderer Stelle (siehe online Publikation „Mit der Zielgruppe testen! Wie Kinder im Museum mitgestalten“) publiziert. Die gewonnenen Erkenntnisse flossen konstant in die weitere Entwicklung ein.

Zwei Nutzer*innen testen den VR-Prototypen
Zwei Nutzer*innen testen den VR-Prototypen in einer provisorischen Station aus, Foto: Ceren Topcu, CC BY 4.0

Das Spiel „Ena wasawasa levu Auf dem weiten Meer“

Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus den Testings zur Verständlichkeit der Spielaufgaben, Handhabung und Erreichung der Lernziele wurde das VR-Spiel bis zur finalen Version weiterentwickelt. Im fertigen Spiel finden sich die Spielenden auf einem digitalen Duplikat des ausgestellten traditionellen Doppelrumpfbootes aus Fidschi wieder. Ihre Aufgabe ist es, in einem ca. zehn- bis zwölfminütigen Spieldurchlauf, das virtuelle Boot mithilfe von traditionellem Navigationswissen zu einer entfernten, hinter dem Horizont liegenden Insel zu steuern, dabei die Natur zu beobachten und notwendige Hinweise für die Navigation auf dem Ozean zu entziffern. Unerwartete Hindernisse erfordern geschicktes Steuern und Konzentration beim Segeln, um das Ziel der Reise zu erreichen. Während einzelner Etappen bereichern gegenwartsbezogene Elemente überraschend das Spiel.

Zu Beginn muss der Spielende zunächst eine Sprachauswahl treffen. Diese Auswahl erfolgt durch eine Blicksteuerung mit Feedback, so dass der Spielende gleich hier zu Beginn eine der beiden für das Spiel notwendigen Steuerungsmöglichkeiten kennenlernt. Mit der Blicksteuerung kann der Spielende im Spielverlauf Hilfestellungen abrufen. Ist die Sprache ausgewählt, beginnt das Spiel. Der Spielende wird von Domo, einem erfahrenen Navigator aus Fidschi, begrüßt und auf eine Reise zu einer fernen Insel eingeladen. Da Mnemotechniken in Ozeanien eine besondere Rolle beim Merken und Rekapitulieren des Wissens zur Navigation spielen, wird dem Spielenden seine Aufgabe in Form eines Merkreimes durch Domo vorgestellt.

Die im Merkreim enthaltenen Hinweise geben bei richtiger Interpretation die Lösung der Aufgaben preis. Domo, als erfahrener Navigator und Vertreter der Herkunftsgesellschaften, vermittelt hier also das Basiswissen an den Spielenden und schickt ihn anschließend auf seine Reise. Vonu, eine grafisch stilisierte Schildkröte auf dem Segel des Bootes, begleitet den Spielenden und hilft ihm in Notlagen. Sie kann durch die eingesetzte Blicksteuerung aktiviert werden. Nach Aktivierung materialisiert sie sich als dreidimensionale Figur vor dem Spielenden und hilft ihm bei der Lösung der Aufgaben mit entscheidenden Tipps weiter. Zunächst aber erläutert Vonu, wie das Boot zu steuern ist. Hierzu nutzt der Spielende einen Controller, mit dem ein virtuelles Steuerruder gefasst und bewegt werden kann.

Nach der inhaltlichen Einführung und Aufgabenstellung durch Domo und dem Tutorial durch Vonu beginnt das eigentliche Spiel. Der Spieler steuert sein Boot aus der schützenden Bucht und segelt hinaus aufs offene Meer. Vier Aufgaben gilt es zu lösen, um die noch hinter dem Horizont verborgene Zielinsel zu erreichen. Vor jeder Aufgabe werden ein paar Verse des Merkreims von Domo wiederholt und visuell durch eine animierte Grafik unterstützt. Der Spielende muss die Hinweise interpretieren und die Aufgabe mittels Blicksteuerung lösen. Erst dann kann er zu seinem nächsten Zwischenziel segeln.

Schafft es der Spielende alle Aufgaben innerhalb der Spielzeit von maximal 12 Minuten zu lösen und die Zielinsel zu erreichen, beglückwünschen ihn dort Domo und andere Inselbewohner*innen freudig. Schafft es der Spielende nicht innerhalb der vorgesehenen Zeit alle Aufgaben zu lösen, wird das Spiel über eine Schwarzblende sowie durch das Versetzen des Bootes und des Spielers an die Zielinsel beendet. Keines der Kinder soll das Spiel frustriert beenden, zumal es im Rahmen der Installation in der Ausstellung keine Möglichkeit gibt, das Spiel unmittelbar ein zweites Mal zu spielen.

https://vimeo.com/670286445
Videoteaser des VR-Spiels „Ena wasawasa levu. Auf dem weiten Meer“, Staatliche Museen zu Berlin / Katharina Woll, CC BY 4.0

Implementierung und Inbetriebnahme

Sind die technischen Bedingungen erfüllt, kann die VR-Anwendung im Rechner lokal gespeichert werden. Beim einfachen Öffnen der Datei mit der Steam VR-Software und den entsprechenden Kalibrierungen des VR-Headsets kann das VR-Spiel ohne weitere Anpassungen gespielt werden.

Um eine möglichst große Zahl an interessierten Kindern das Spielen von „Ena wasawasa levu. Auf dem weiten Meer“ im Humboldt Forum zu ermöglichen, ist ein Spielmöbel geplant, das Sitzmöglichkeiten für zwei parallel spielende Kinder ermöglicht. Dieses Möbel ist unmittelbar neben dem Doppelrumpfboot aus Fidschi vorgesehen, und wird gestalterisch in die Familienfläche eingebunden. Nach dem Spiel kann das Kind das benachbarte Original erkunden und sieht es vielleicht nun mit etwas anderen Augen. Das Möbel selbst wird so konstruiert, dass es die benötigte Technik vom Rechner über die VR-Brillen bis zum Reinigungsmittel verschließbar aufnehmen und so auch in spielfreien Zeiten als Sitzmöbel genutzt werden kann.

Betrieb in der Ausstellung

Das Spiel steht seit Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Ethnologischen Museums im September 2022 als Bestandteil der Familienfläche zu Ozeanien der Öffentlichkeit zur Verfügung. Gespielt werden kann vor Ort im sog. Bootekubus Samstags und Sonntags, ohne Voranmeldung. Die VR-Station wird von ein bis zwei geschulten Personen betreut.

Nachnutzung und Weiterentwicklung

Mit dem VR-Spiel wird ein Nutzungsszenario für den Einsatz von VR-Technologien für Kinder und Jugendliche erprobt. Es bildet einen Ausgangspunkt für die weitere Arbeit mit VR-Technologien im Bereich der auf Kinder und Jugendliche gerichteten Vermittlung in Museen und Ausstellungen. Insbesondere Vorhaben, die innovative Narrative, zukunftsweisende Zugänge und neue Formen der Kontextualisierung von Sammlungsobjekten intendieren, sollten von den Erfahrungen bei diesem Projekt profitieren können.

Als fertige Anwendung dient „Ena wasawasa levu. Auf dem weiten Meer“ der Vermittlung von Wissen über die traditionelle Navigation in Ozeanien, das über das Ethnologische Museum zu Berlin hinaus in weiteren Museen und Kultureinrichtungen zum Einsatz kommen kann.

Der Spiel-Code wurde mit Unity in der Version 2019.2 entwickelt und steht im GitHub Repository von museum4punkt0 unter einer MIT Lizenz zum Download zur Verfügung. Darunter sind sämtliche Spielkomponenten wie bspw. das Boot zu finden. Einige wenige Komponenten des Spiels unterliegen Lizenzen Dritter. Diese sind im Quellcode als solche gekennzeichnet und zu beachten. Weitere Hinweise sind der in GitHub hinterlegten Dokumentation zu entnehmen.

Bereitstellung der Nachnutzung

Die Quelldateien mitsamt technischer Dokumentation steht anderen Kultureinrichtungen zum Download und zur individuellen Anpassung auf GitHub zur Verfügung. Weitere Elemente der Nachnutzung finden Sie im Anhang dieser Publikation.

Erfahrungen

Eine bedeutende Erkenntnis aus der inhaltlich-konzeptuellen Auseinandersetzung in diesem Projekt ist, dass die Vermittlung von und mit Objekten aus ethnologischen Sammlungen eine besondere Sensibilität erfordert. Ob ein respektvoller Umgang mit den Sammlungsobjekten und dem damit verbundenen Wissen unserer sowie weiterer Kulturen stattfindet, muss selbstverständlich mit Vertretern der Herkunftsgesellschaft geprüft werden. Es muss aber auch vom verantwortlichen Projektteam in jeder Projektphase Berücksichtigung finden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dabei von enormer Relevanz.

Doch die wesentliche Rolle der interdisziplinären Zusammenarbeit reicht über das konkrete Sammlungsobjekt hinaus. Das Schaffen von neuen Zugängen und Formen der Kontextualisierung durch digitale Medien im Ausstellungsraum impliziert eine Serie von Zuständigkeiten und Kompetenzen, die über einen offenen Austausch und eine zielgerichtete Koordination in Einklang gebracht werden müssen. Denn die zukünftigen Nutzer*innen werden nicht das Team kennenlernen, sondern die Ergebnisse seines Austauschs erleben.

Von großer Bedeutung für die iterative Entwicklung des Spiels war die frühe Einbindung der Zielgruppe. Durch mehrere Testings konnten wertvolle Erkenntnisse zum Umgang von Kindern mit der Technik, ihrem Verhalten in der virtuellen Welt und zu ihren inhaltlichen Erwartungen und Wünschen gewonnen werden, die unmittelbar in die weitere Entwicklung einflossen. Die in den Testings angewandten Methoden der Besucherforschung und deren Ergebnisse sind an anderer Stelle publiziert (siehe online Publikation „Mit der Zielgruppe testen! Wie Kinder im Museum mitgestalten“).

Eine wichtige Erfahrung aus der Testings mit den Nutzer*innen ist zu merken, wie das VR-Spiel zur Ermächtigung der Spieler*innen führt. Die spielenden Kinder und Jugendlichen schaffen es, sich alleine auf dem großen Ozean zu orientieren, das Boot selbst zu steuern und die Zielinsel zu erreichen. Auch mit zeitlichem Abstand nach dem Spielen konnten sich die Kinder an die Botschaften und Vermittlungsziele lebhaft erinnern. Durch das positive Spielerlebnis kommen die Kinder und Jugendliche ozeanischen Kulturen und auch dem Ethnologischen Museum näher.

Der Einsatz von VR-Technologie im Museum ist betreuungsintensiv. Für den Betrieb gilt es zahlreiche Abläufe vom Ticketing, über die eigentliche Betreuung bis hin zur zügigen technischen Fehlerbehebung zu regeln. Nutzungsregeln müssen für Kinder und für begleitende erziehungsberechtigte und haftungspflichtige Personen definiert und vermittelt werden. Ein reibungsloser Ablauf während der Öffnungszeiten muss möglichst garantiert sein. Gemeinsam mit dem Verantwortlichen für die IT-Gesamtplanung des Teilprojektes wurde ein Nutzungsszenario durchdacht und Handlungsanweisungen für das betreuende Personal erarbeitet.

Dass das Spiel gut aufgenommen wird sowie die Bedeutung des Meeres für die Menschen in Ozeanien auf emotionale und spielerische Weise erfahrbar ist, davon sind wir nicht nur auf Grund unserer umfassenden Testings überzeugt. Da zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes das Humboldt Forum noch nicht eröffnet ist, ist die Frage, wie sich das Spiel im laufenden Ausstellungsbetrieb bewähren wird, noch offen. Die während der Planungen zum Spiel stets mitbedachte Evaluation des Spielszenarios vor Ort muss also warten. Wir glauben aber mit dem Betriebskonzept eine gute Grundlage auch dafür gelegt zu haben.

Nachnutzbare Elemente

Weitere Ergebnisse im Teilprojekt

Bild zum Ergebnis: Mit der Zielgruppe testen! Wie Kinder im Museum mitgestalten
Studien und Handreichungen

Mit der Zielgruppe testen! Wie Kinder im Museum mitgestalten

Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Als Grundlage zur Entwicklung und Erprobung digitaler Vermittlungsformate führten wir zu Beginn des Teilprojekts „Visitor Journeys neu gedacht“ in den Staatlichen Museen zu Berlin eine umfassende Besucher*innen-Forschung durch.

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