„On Set“ – standortbasierte AR im Stadtraum
Überblick
Die standortbasierte App „On Set – Film in Berlin“ vermittelt Filmgeschichte an drei bedeutenden Berliner Drehorten. Mit Augmented Reality (AR) wird der heutige Ort um Filmkulissen, Sammlungsobjekte, Filmausschnitte oder Setfotos erweitert. Über einen Audioguide, Klapptexte und vor Ort in AR erscheinende Filmschaffende gibt die App Einblicke in Filmproduktionen von den 1920-ern bis heute.
Je Standort wird eine historische Kamera aus den 1920er- bis 1980er-Jahren als 3D-Objekt eingeblendet. Dazu werden Kamerafilter zur Verfügung gestellt, die die Kameraästhetik der jeweiligen Filmkamera imitieren. Die Nutzer*innen können Fotos und Videos mit den gezeigten AR-Objekten oder Filtern aufnehmen und sie aus der App heraus teilen.
Bibliographische Angaben
- Institution
- Stiftung Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen
- Teilprojekt
- Mit der Filmkamera durch Berlin
- Autor*innen
- Inga Hallsson
- Veröffentlicht
- 31.08.2022
- Lizenz der Publikation
- CC0 1.0
- Kontakt
- Friederike Zobel
Stiftung Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen
info@deutsche-kinemathek.de
Entwicklung
Die App „On Set – Film in Berlin“ wurde in einem abteilungsübergreifenden Team konzipiert und mit einem lokalen Startup umgesetzt. Der Projektzeitraum von Beginn der Konzeption bis zum Release für iOS und Android in Deutsch und Englisch erstreckte sich über 18 Monate. Während der gesamten Projektlaufzeit fand ein enger Austausch mit der Zielgruppe der 20- bis 35-Jährigen statt – sowohl durch eine Hochschulkooperation als auch Usability-Tests mit Studierenden.
Inhaltliches Konzept
Es wurde eine multimediale Anwendung entwickelt, die das Museum mit seiner filmhistorischen Sammlung in den Außenraum bringt und es auf diese Weise mit der Filmstadt verbindet. Besonders anschaulich ist das Überlagern und Erweitern der heutigen Drehorte mit Bildmaterial, das mit dem Ort unmittelbar in Beziehung steht.
Eine Verbindung zwischen den Objekten im Museum und den Drehorten in der Stadt wird mit Hilfe von AR hergestellt: Die Nutzer*innen werden an ausgewählte Orte geführt und erleben Filmgeschichte dort im räumlichen Kontext, beispielsweise mit Filmausschnitten, Storyboards, Setfotos oder Teilen von Filmkulissen.
AR schafft ein immersives Erlebnis und ermöglicht Interaktionen der User – wie zum Beispiel das gegenseitige Fotografieren vor der Kulisse von „Babylon Berlin“. Die Entscheidung für AR als Tool war somit eine Entscheidung für eine erlebnisorientierte und interaktive Wissensvermittlung.
Technisches Konzept
In Vorbereitung der Ausschreibung für die technische Entwicklung wurden Gespräche mit App-Firmen geführt, um die Vor- und Nachteile verschiedener App-Typen abzuwägen. Während eine native App auf dem Gerät installiert werden muss, ist die kostengünstigere Progressive Web App (PWA) über den Browser zugänglich, ähnelt in Aussehen und Funktionalität aber einer „richtigen“ App. Angesichts der angedachten AR-Features stellte sich heraus, dass eine native App u. a. wegen der höheren Stabilität und Performanz besser für das Vorhaben geeigneter ist.
Die Entwicklung der nativen App „On Set – Film in Berlin“ fand mit einem Berliner Startup statt, das sich auf AR-Touren im Stadtraum spezialisiert hat. Das Startup hat eine eigene App entwickelt und stellt somit ein CMS bereit, das von Kund*innen für deren Inhalte an individuellen Standorten genutzt werden kann und das im Hintergrund stetig weiterentwickelt wird. Bei der Entwicklung hatte dies den Vorteil, dass einmal ins CMS hochgeladene Inhalte vom App-Team selbstständig als AR-Objekte platziert und frühzeitig vor Ort getestet werden konnten.
Entsprechend dem inhaltlichen Konzept, das eine Verschmelzung von Realität und filmhistorischem Material am Drehort zum Ziel hat, wird standortbasierte AR verwendet. Die technische Umsetzung kann auf verschiedene Weisen geschehen und hat sich im Laufe des Projekts geändert.
Implementierung und Inbetriebnahme
Zu Beginn der technischen Entwicklung im Sommer 2021 wurde für eine präzise Platzierung der AR-Inhalte am jeweiligen Standort Marker-basierte AR verwendet. Der sogenannte Marker ist ein visueller Auslöser in der realen Umgebung, z.B. ein am App-Standort platziertes Werbeplakat. Die virtuellen AR-Objekte werden in Bezug zum Marker platziert und sind danach durch Scannen des Markers in der App abrufbar. Wichtig sind eine uneingeschränkte Sichtbarkeit des Markers sowie seine feste Installation, da sich die AR-Objekte im Raum entsprechend der Ausrichtung des Markers verschieben, vergleichbar einer Projektion.
Im Laufe der App-Entwicklung ging das Startup eine Kooperation mit Google für die Nutzung der sogenannten Earth Cloud Anchors ein. Im Frühjahr 2022 konnte diese Technologie auch für „On Set“ eingesetzt werden. Anstelle der physischen Marker werden virtuelle Anker platziert, an denen die AR-Objekte ausgerichtet werden. Gescannt wird vom User dann kein Marker sondern die Umgebung (Boden, Häuserfassaden), wodurch der Auslösepunkt identifiziert werden kann. Wenige Monate später wurden die Earth Cloud Anchors wiederum durch sogenannte Geospatial Anchors ersetzt, die eine noch genauere Ortung des Geräts und somit einen präziseren Abruf der Position der AR-Elemente ermöglichen sollen.
Die Nutzung der Geospatial Anchors als Auslöser für standortbasierte AR-Inhalte bietet eine größere Flexibilität als fest installierte Marker. Während Marker-basierte AR auf einen Radius von etwa 50 Metern um den Marker beschränkt ist, kann eine Vielzahl an virtuellen Markern gesetzt und somit der Radius des AR-Erlebnisses ausgedehnt werden.
Nach der Neuplatzierung der AR-Inhalte anhand der Geospatial Anchors wurde in Tests allerdings deren Platzierung nicht immer exakt abgerufen, d.h. Objekte wurden vertikal oder horizontal im Außenraum verschoben angezeigt. Je nach angezeigtem Objekt kann das die Interaktion mit ihm unmöglich machen. Eine Rückkehr zu physischen Markern kommt nicht in Betracht, da sich nach deren Installation als Laternenwerbung herausstellte, dass die Plakate so hoch hängen, dass der Winkel für ein erfolgreiches Scannen für viele User zu groß ist. Stattdessen wird mit den Entwickler*innen an einer Lösung gearbeitet, die die Lokalisierung des Geräts und somit die korrekte Anzeige der AR-Objekte verbessert.
Herausforderungen bei der Entwicklung einer Anwendung mit standortbasierter AR im öffentlichen Raum sind unter anderem:
- die Witterung
- die Wahl des Standorts
- permanente Hinweise auf das Angebot vor Ort
Beim Testen der App war das Team allen Witterungen von Schneefall bis 30 Grad Hitze und Spiegelungen auf dem Bildschirm durch Sonneneinstrahlung ausgesetzt. Usability-Test konnten nur bedingt von den Witterungsbedingungen abhängig gemacht werden.
Bei der Wahl der Standorte ergeben sich teils widersprüchliche Anforderungen: Um die AR-Inhalte ohne Behinderungen und Gefahren durch den Straßenverkehr (auch Radfahrer, E-Roller) anschauen zu können und den Audioguide gut zu verstehen, sollte der Standort möglichst ruhig sein und nicht als Treffpunkt (im Weg stehende Leute) dienen. Das AR-Erlebnis sollte möglichst keine Straßenüberquerung erfordern. Andererseits ist von Vorteil, wenn der Standort von Berliner*innen und Tourist*innen frequentiert wird, da so mehr User gewonnen werden. Räumliche Beeinträchtigungen wie Märkte, Ausstellungen, parkende Autos etc. können durch längere Beobachtung des Ortes nur teilweise vorhergesehen werden: Der Standort Potsdamer Platz in der App „On Set“ musste wegen einer aufwändigen Gebäudesanierung kurz vor Release noch einmal geändert werden.
Je nach Stadt sind Interventionen im Stadtraum zum Hinweis auf das digitale Angebot mit großem Zeit- und Kostenaufwand verbunden oder gar unmöglich. In Berlin ist Werbung außerhalb der vorgesehenen Werbeflächen generell problematisch und variiert je nach zuständigem Bezirksamt oder ggf. vorhandenem Denkmalschutzbereich. Für die App „On Set“ wurde ein Antrag auf Sondernutzung für den denkmalgeschützten Bereich Oranienstraße am App-Standort Kreuzberg 36 gestellt, um dort die Platzierung des Markers an einem Lichtmast zu ermöglichen. Der Antrag wurde zurückgezogen als die Marker verzichtbar wurden.
Generell sollte man die Vor- und Nachteile von standortbasierter AR gründlich abwägen: Ist der Effekt vor Ort so groß, dass er Menschen motiviert, sich zum App-Standort zu begeben, um die App dort zu nutzen? Soll die App wirklich nur vor Ort oder darüber hinaus auch ortsunabhängig – von zuhause, aus dem Ausland – genutzt werden können?
Usability Tests
Die Nutzer*innenorientierung stand von Anfang an im Vordergrund. Mit Hilfe von Methoden aus dem Design Thinking wurden acht Mitglieder der Zielgruppe zu ihren Interessen und ihrem Umgang mit Apps befragt. Hierfür wurde ein Fragebogen (Interview-Fragen) entwickelt. Danach wurde im Team ein Prototyp skizziert und daraus mit einer Prototyping-App ein erster Klick-Dummy erstellt. Dieser konnte mit rund zehn Studierenden in Einzelgesprächen via Videocall getestet werden. Den Nutzer*innen wurde beim Navigieren durch den Prototypen quasi über die Schulter geschaut. Die Ergebnisse fanden Eingang in die inhaltliche und konzeptionelle Weiterentwicklung der App.
Etwa fünf Monate nach Beginn der Zusammenarbeit mit den Entwicklern wurden in Usability-Tests die App-Inhalte und das Zusammenspiel von Audioguide (KI-Stimme) und AR-Elementen getestet. Zunächst wurde der Prototyp mit einem Experten für Design Thinking an allen drei App-Standorten getestet und ein Test-Ablauf samt Fragebogen entwickelt. Danach fanden in einem Zeitraum von vier Wochen sieben Tests mit Studierenden der Hochschule Macromedia und der Filmuniversität Potsdam statt, davon drei am App-Standort Alexanderplatz, zwei am Standort Kreuzberg 36 und zwei am Potsdamer Platz. Im Anschluss an den jeweils etwa 45-minütigen Usability-Test wurden im Gespräch mit der Testperson anhand des entwickelten Fragebogens die Erlebnisse reflektiert sowie ergänzende Hinweise und Vorschläge ermöglicht.
Die Protokolle wurden für die Entwickler*innen (Protokoll als PDF) und die Redakteurin (Protokoll als PDF) aufbereitet. Die Ergebnisse der Tests wurden bei der finalen Bearbeitung des Audioguides berücksichtigt und flossen in App-Inhalte und -Funktionen ein.
Erfahrungen
Bei der Konzeption und Entwicklung der App wurde die Erfahrung gemacht, dass die Inhalte immer vor die technische Lösung gestellt werden sollten. Die ersten Fragen sollten immer lauten „Was möchten wir erzählen?“ und „Wem möchten wir etwas erzählen?“. Technische Hilfsmittel wie AR können eine zusätzliche Dimension schaffen und Interaktionen der Nutzer*innen mit den Inhalten ermöglichen.
Die Usability-Tests brachten wichtige Erkenntnisse und oft ähnliche Bedürfnisse der Nutzer*innen zutage und sind deshalb zu empfehlen. Bezüglich der Umsetzbarkeit sollte aber im Vorfeld klar sein und kommuniziert werden, was getestet werden soll und was nicht verändert werden kann. Tests nehmen erstaunlich viel Zeit in Anspruch und binden personelle Ressourcen. Es sollte genügend Zeit sowohl für die Durchführung als auch für die Probandensuche und Terminorganisation sowie die inhaltliche Vor- und Nachbereitung der Tests eingeplant werden.
Bei der Verwendung von standortbasierter AR als Vermittlungstool bewegt man sich auf einem schmalen Grat zwischen der Erschaffung neuer Möglichkeiten der Inhaltspräsentation einerseits und dem Aufbau von Barrieren andererseits. Denn anders als eine VR-Station im Museum, die den geschützten Ausstellungsraum durch eine virtuelle Dimension erweitert, muss eine AR-App nicht nur mit anderen Apps im Store oder auf dem Handy konkurrieren, sondern auch mit dem Verkehrslärm, mit anderen Fußgängern, mit weiteren unmittelbar zur Verfügung stehenden Aktivitäten wie Shopping oder einem Café-Besuch.
Dennoch ist eine AR-App für den Stadtraum eine unkonventionelle Möglichkeit um ein digital affines Publikum zu erreichen, das das Museum nicht kennt, sich aber für seine Inhalte interessiert. Ist die App einmal heruntergeladen, schafft sie auf innovative Art einen Zugang zur Sammlung und macht Lust auf weitere digitale Angebote des Museums oder einen Besuch der Ausstellung.
Nachnutzung und Weiterentwicklung
Im Anhang dieses Leitfadens werden Arbeitsmaterialien zur Planung und Durchführung von Usability Tests bereitgestellt. Einen tieferen Einblick in das Konzept der App gibt das Leistungsverzeichnis, das die Grundlage der Ausschreibung zur App-Entwicklung bildete. Nachnutzbare Elemente der App sind die 3D-Modelle von drei historischen Filmkameras, die auf der Basis von 360°-Fotos modelliert wurden sowie die entwickelten Kamerafilter. Bei den Kameramodellen handelt es sich um die Zeiss Ikon „Kinamo N 25“ (ab 1926), die Braun „Nizo 4080“ Super-8-Tonfilmkamera (ab 1978) und die Grundig „S-VS 180“ Videokamera (ab 1987). Die 3D-Modelle und Kamerafilter werden als Assets für Unity zur Verfügung gestellt.
Bereitstellung der Nachnutzung
Die in der App gezeigten Kameramodelle und -filter mitsamt technischer Dokumentation stehen anderen Kultureinrichtungen zum Download und zur individuellen Anpassung auf GitHub zur Verfügung.
Sie sind an der Nachnutzung der digitalen Anwendung interessiert? Bitte wenden Sie sich an info@deutsche-kinemathek.de. Weitere Elemente der Nachnutzung finden Sie im Anhang dieser Publikation.
Nachnutzbare Elemente
- Interview-Fragen
- Test-Feedback an die Entwickler*innen (Protokoll als PDF)
- Test-Feedback an die Redakteuerin (Protokoll als PDF)
- Ausschreibung: Leistungsbeschreibung für die Konzeption und Entwicklung einer multimedialen Anwendung zur Visualisierung von Filmgeschichte im Berliner Stadtraum
- Beispiel Hotspot „Alexanderplatz“
- Test-Template