Mit dem Smartphone in die Römerzeit – Digitale Rekonstruktion und Visualisierung eines antiken Grabmals mit 360°-Panoramen und Augmented Reality

Zu sehen ist eine digitale Rekonstruktion eines antiken Grabmals
Mit dem Smartphone in die Römerzeit – Digitale Rekonstruktion und Visualisierung eines antiken Grabmals mit 360°-Panoramen und Augmented Reality, Foto: Stadt Ingelheim/Link3D, CC BY-SA 4.0

Überblick

Die Augmented Reality-App „Ingelheim zur Römerzeit“ (iOS und Android) ermöglicht es Nutzer*innen, drei lebensgroße römische Statuen aus Ingelheim in ihrem ursprünglichen Kontext eines monumentalen Grabmals des 1. Jahrhunderts zu erleben. Das heute vollständig verschwundene Monument kann mittels eines 360°-Panoramas an seinem ehemaligen Standort außerhalb der heutigen Stadt Ingelheim betrachtet werden. Durch die Verknüpfung der Inhalte mit GPS-Koordinaten kann die römische Siedlungslandschaft mit dem Grabmal über die heutige Landschaft gelegt werden. Im Museum bei der Kaiserpfalz können darüber hinaus Bilder der farbig rekonstruierten Grabfiguren mittels Augmented Reality über die dort ausgestellten originalen Statuen geblendet werden. Anhand von Texten und Audios sowie eines Videos mit einer Spielszene werden Details der wissenschaftlichen Rekonstruktion und historische Hintergründe der römischen Epoche vermittelt.

Bibliographische Angaben

Institution
Museum bei der Kaiserpfalz Ingelheim
Teilprojekt
AR-Panoramen – Mit dem Smartphone in die Römerzeit
Autor*innen
André Madaus
Veröffentlicht
13.06.2023
Lizenz der Publikation
CC BY-SA 4.0
Kontakt
Isabel Kappesser
Stadtverwaltung Ingelheim – Museum bei der Kaiserpfalz
info-museum@ingelheim.de

Entwicklung

Hinterlassenschaften vor- und frühgeschichtlicher Lebenswelten sind in der Gegenwart meist nur noch als Bodendenkmäler erhalten geblieben. Oft handelt es sich dabei um abstrakte archäologische Befunde wie Verfärbungen im Boden. Deren inhaltliche Vermittlung gestaltet sich entsprechend schwierig, zumal ein Bewusstsein für solche Denkmäler und ihre jeweilige Bedeutung oft nicht vorhanden ist. Hinzu kommt, dass archäologische Funde aus frühen Epochen der Menschheit in Museen in der Regel nicht in ihrem ursprünglichen Kontext gezeigt werden können. Expert*innen mögen sich ein Bild solcher untergegangenen Welten machen können, dem Laien bleibt dieser Blick in die Vergangenheit oft verwehrt.  

Inhaltliches Konzept

Ein gutes Beispiel hierfür sind die drei römerzeitlichen Grabfiguren, die im Museum bei der Kaiserpfalz Ingelheim ausgestellt sind: Sie waren einst Teil eines monumentalen Grabmals, von dessen Architektur keine Überreste die Zeit überdauert haben. Ausgehend von den Figuren, die aufgrund äußerlicher Merkmale wie Kleidung, Schmuck und Frisuren in die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. datiert werden können, lassen sich der Typus, das Aussehen und die Größe des Monuments mit hoher Wahrscheinlichkeit rekonstruieren. Da an den lebensgroßen Statuen noch Reste einer römerzeitlichen Farbfassung teils mit bloßem Auge erkennbar sind, lässt sich auch deren Farbigkeit weitgehend zuverlässig nachvollziehen. Die römerzeitliche Siedlungstopographie rund um das moderne Ingelheim, etwa der Verlauf der Fernstraße und die damaligen Siedlungsplätze, sind in ausreichendem Maße bekannt. Auf der Grundlage dieser Informationen lässt sich die römische Lebenswelt der Zeit um 100 n. Chr. insgesamt plausibel rekonstruieren. So befand sich in der Nähe des Fundortes der Figuren ein römisches Landgut (Villa rustica), auf dessen privatem Friedhof das Grabmonument sehr wahrscheinlich errichtet wurde. Ähnliche Konstellationen sind in den römischen Nordwest-Provinzen vielfach nachgewiesen.

Eine Frau steht mit dem Smartphone an einer Wiese.
Erster Eindruck zur Nutzung der geplanten Smartphone-App im Außenraum, Foto: Stadt Ingelheim, CC BY-SA 4.0

Storytelling

Im Vordergrund der Wissensvermittlung steht die lebensechte Darstellung der römischen Antike in Ingelheim. Zielführend ist hierfür das Storytelling. Neben erklärenden Texten und Audios, anhand derer sich App-Nutzer*innen je nach Interesse mehr oder weniger ausführlich über die Römerzeit informieren können, dienen insbesondere die drei Grabfiguren selbst als Wissensvermittler. An einer Station der App kann ein Video (2:37 min) abgerufen werden, in dem eine der beiden Frauenstatuen portraitiert wird. Dafür wurde eine Schauspielerin mit den Kleidungs- und Schmuckstücken der Grabfigur ausgestattet und vor einem Green Screen gefilmt, sodass sie im Video eingebettet in der römischen Landschaft vor dem rekonstruierten Grabmal zu stehen scheint.

Von dem Monument sind außer den Figuren keine Überreste mehr erhalten, weshalb auch die Namen der dargestellten Personen unbekannt sind. Um ein vollständiges und stimmiges Gesamtbild zu erzeugen und „eine Geschichte zu erzählen“, wurden trotzdem Namen vergeben und weitere wissenschaftliche Leerstellen gefüllt. Dabei basieren alle Inhalte auf intensiver archäologischer Recherche, durch die sich verschiedene mögliche Szenarien ergaben und letztlich zu einer plausiblen Geschichte zusammengeführt wurden. So bekamen alle drei Figuren einen zeit- und ortstypischen Namen, welcher auf der Inschrift des rekonstruierten Grabmals zu lesen ist. Darüber hinaus wurde eine Familiengeschichte entwickelt, die den vorliegenden Erkenntnissen über die sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge des 1. Jahrhunderts entspricht. Die Schauspielerin erzählt in dem Video somit über sich, das Monument und ihre Eltern, während gleichzeitig allgemeine Kenntnisse über die Epoche vermittelt werden.   Auch bei den drei AR-Stationen im Museum kommen die Grabfiguren in kurzen Audiosequenzen selbst zu Wort. Sie wenden sich dabei, wie auch die Darstellerin in dem Video, direkt an die App-Nutzer*innen. Die Verstorbenen geben Einblicke in ihre Gedankenwelt, indem sie zum Beispiel über ihr Leben und die Rekonstruktion ihrer Figur sinnieren. Dabei geht es nicht zuletzt darum, die realen Menschen hinter den abstrakten Steinfiguren zu zeigen, die vor langer Zeit in Ingelheim gelebt haben und so die Kluft der Jahrtausende zwischen den Menschen damals und den Nutzer*innen heute zu überbrücken.

Technisches Konzept

Ziel des Teilprojekts war daher die Entwicklung einer Mobile-App, die Nutzer*innen nicht nur eine Rekonstruktion der farbigen Figuren in ihrem sepulkralen Zusammenhang vermittelt, sondern auch eine lebendige Vorstellung davon, wie die Kulturlandschaft damals ausgesehen haben könnte. Um gleichzeitig die räumlichen Kontinuitäten zwischen Antike und heute erfahrbar zu machen – römische Fernstraße und Autobahn, römisches Ingelheim und moderne Stadt – sollte die App die Möglichkeit bieten, am ehemaligen Standort der Figuren bzw. des Monuments die Lebenswelt des 1. Jahrhunderts über die heutige Realität zu blenden. Die Wahl fiel auf eine Applikation der Firma Extended Vision, die sich in einem anderen Projekt mit vergleichbarer Aufgabenstellung bereits bewährt hatte. Diese App beinhaltet eine Routenführung zu verschiedenen Stationen, an denen mittels unterschiedlicher Features und Medien (360°-Panorama, Augmented Reality, Animation, Text, Audio, Video) die Informationen vermittelt werden. Nutzer*innen können dabei optional einer vorgeschlagenen Tour zu den einzelnen Stationen folgen. Ausgangspunkt ist eine Infotafel an einem gut frequentierten Radweg nahe des ursprünglichen Standortes des Grabmals, wo die App über QR-Codes heruntergeladen werden kann. Um zu vermeiden, dass es bei der Nutzung etwa der AR-Inhalte oder der Routenführung zu Problemen kommt, wurde die Qualität des mobilen Internetzugangs vor Ort überprüft. Die App besitzt zudem Offline-Fähigkeiten, sodass alle Inhalte einschließlich der Routenführung auch vorab, z. B. an einem Standort mit WLAN, heruntergeladen werden können. Die erste der insgesamt zehn Stationen beinhaltet das 360°-Panorama der römischen Lebenswelt. Für dieses Feature nutzt die App Kompassdaten, sodass beim Öffnen des Panoramas der zum Blickwinkel passende Ausschnitt über die heutige Landschaft geblendet wird. Die letzte Station der Route ist das Museum, wo Nutzer*innen mittels einer AR die farbige Rekonstruktion der Grabstatuen nachvollziehen können. Alle Inhalte der App können über ein leicht zu bedienendes Redaktionssystem eigenständig in wenigen Minuten aktualisiert werden. Es können zum Beispiel neue Inhalte hinzugefügt oder die Routenführung geändert werden

Zu sehen sind Grabfiguren, deren farbliche Darstellung auf dem Smartphone rekonstruiert wird.
AR-Anwendung der farblichen Rekonstruktionen römischer Grabfiguren vor den Originalen im Museum bei der Kaiserpfalz, Foto: Stadt Ingelheim, CC BY-SA 4.0

Implementierung und Inbetriebnahme

Die bereits existierende Anwendung des Entwicklers Extended Vision musste lediglich an das inhaltliche Konzept der Ingelheimer App angepasst werden.

Bereitstellung der Nachnutzung

Die Quelldateien mitsamt technischer Dokumentation steht anderen Kultureinrichtungen zum Download und zur individuellen Anpassung auf GitHub zur Verfügung. Weitere Elemente der Nachnutzung finden Sie im Anhang dieser Publikation.

Der auf Github zur Verfügung gestellt Code kann in andere Anwendungen eingebaut werden, um ein 360°-Panorama in Abhängigkeit der Ausrichtung (Himmelsrichtung) des mobilen Gerätes (Smartphone oder Tablet) vor Ort einzublenden. Die Anwendung läuft auf Android Smartphones oder Tablets sowie auf iPhones oder iPads. Bei der dafür benötigten Software handelt es sich um die Xcode Entwicklungsumgebung von Apple oder Android Studio von Google.

Besucherforschung und Usability Tests

Die App wurde nach ihrer Fertigstellung durch verschiedene Gruppen getestet. Darunter waren Mitarbeitende des Museums und der Forschungsstelle Kaiserpfalz, Gästeführer*innen der Stadt Ingelheim sowie Freunde und Bekannte. Die ersten Tests wurden zuhause durchgeführt, ein weiterer dann vor Ort, um auch die ortsabhängige Funktion der 360°-Panoramen zu überprüfen. Im Fokus stand im ersten Teil die Usability der App. Wir wollten wissen: Wie leicht fällt Nutzer*innen die Handhabung der App? Wie intuitiv lässt sie sich bedienen? Um die Nutzung der App und ihrer unterschiedlichen Funktionen zu erleichtern, startet die Anwendung nach der Installation mit einigen Tutorials, die anhand von kurzen Texten und exemplarischen Vorschaubildern die grundlegenden Anwendungsmöglichkeiten erläutern. Nutzer*innen können diese Tutorials auch überspringen und direkt mit der Anwendung starten.

Neben der Usability wollten wir auch abfragen, ob die Funktionstüchtigkeit aller Inhalte gewährleistet ist, ob also alle Inhalte wie gewünscht abgerufen werden können und reibungslos funktionieren. Dabei verwendeten die Testpersonen ihre privaten Geräte, wobei jeweils etwa die gleiche Anzahl mit Android- und iOS-Betriebssystemen testete.

Ein weiterer Teil der Testfragen beschäftigte sich mit den Inhalten. Hier ging es insbesondere um die Länge und Verständlichkeit der Texte und Audios. Die Tests wurden dabei gezielt mit verschiedenen Personengruppen durchgeführt, die sich hinsichtlich des Alters und der historisch-archäologischen Kenntnisse unterschieden.

Ein großer Vorteil der App ist die Möglichkeit, über das Redaktionssystem alle Inhalte schnell ändern zu können. Da sich bei den Tests herausstellte, dass die Routenführung der App von einigen Testpersonen nicht verstanden oder als zu umständlich bewertet wurde, wurde die Struktur der Route im Anschluss an die Tests vereinfacht.

Nachnutzbare Elemente

Weitere Ergebnisse im Teilprojekt

Impulse & Tools für die digitale Kulturvermittlung

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